Powdern am Mount Washington: Wo das Outback im Schnee versinkt
Wir Europäer schätzen Kanada als Ziel für Ski- und Snowboard-Reisen wegen seiner enormen Schneemassen, denken aber vor allem an Whistler, Lake Louise & Co. Dabei melden oft die Berge auf Vancouver Island den stärksten Schneefall des Landes. Gut für das größte Resort der Insel und die kleineren Schätze drum herum, aber schlecht für das Dach einer historischen Skilodge.
Freeride-Tipp in Kanada: Mount Washington auf Vancouver Island
Das Outback. Unberührtes Terrain, die letzten Anzeichen von Zivilisation längst außer Sicht. Über die Zweige der Bäume hinweg schweift der Blick kilometerweit in die Ebene. Bei jedem Schritt sinken die Schuhe mit leisem Knirschen ein Stück weit ein in den weichen Untergrund. Nur wirbelt kein lästiger Staub um die Füße, sondern eine Wolke feinster Eiskristalle. Statt unbarmherziger Hitze spüre ich Minusgrade auf der Wange und statt der Klänge eines Didgeridoos vernehme ich das undeutliche Surren eines Sessellifts in der Ferne. Ich befinde mich nicht auf dem Roten Kontinent, sondern inmitten einer weißen Abenteuerlandschaft – auf dem Mount Washington auf Vancouver Island.
Die Insel ist die größte an der nordamerikanischen Pazifikküste und mit zwei Nationalparks sowie einer mehr als 3.300 Kilometer langen Küstenlinie ein echtes Outdoor-Paradies. Hier geht Regenwald in Strand über, hier steigt man vom Mountainbike ins Kajak und hat noch Wanderschuhe im Rucksack. Gerade der Pacific Rim National Park bietet fantastische Wanderrouten und mit den Broken Islands im Barkley Sound großartige Möglichkeiten zum Paddeln. Den Fotoapparat zückt man nicht für ein Selfie, sondern um Bären, Elche oder Wale abzulichten.
Speziell an der Westseite von Vancouver Island kann es schon mal stürmisch zugehen. Insgesamt aber lassen sich Naturfreunde das ganze Jahr über von relativ milden Temperaturen vor die Tür locken, Schnee sieht man in den Küstenregionen so gut wie nie. In den Bergen ist das anders. Gewaltig anders. Rund elf Meter rieseln im Winter in den Höhenlagen herab, oftmals mehr als anderswo im Land. Über diese Mengen freuen sie sich am Mount Washington besonders. Das Mount Washington Alpine Resort ist das einzige respektable Skigebiet der Insel und dank des Outbacks ein echter Hammer für Freerider.
Mit Section 8 ins Outback
„Alles in diesem Teil des Resorts hat australische Namen, vom Boomerang-Lift über Runs wie Billabong oder Brumbys“, erklärt Dan McCrea. Dass die Abfahrten dort Double Black Diamonds sind, also aus der schwierigsten Kategorie, die es in nordamerikanischen Skigebieten gibt, versteht sich von selbst. Die Hänge sind genauso wild und naturbelassen wie die Weiten des Namensgebers aus Down Under. Das macht sie für Dan zum idealen Spielplatz. Er ist Snowboard-Lehrer bei Section 8, einem Snowsport Institute, bei dem einige der besten Instruktoren des Landes arbeiten.
Selbst für sehr gute Skifahrer und Snowboarder lohnt es sich, ganz genau aufzupassen, wenn die Jungs und Mädels von Section 8 Techniktipps geben. Trotzdem müssen sich die Lehrer gelegentlich der Aufmerksamkeit ihrer Schützlinge versichern. Der eine oder andere verliert sich oben auf dem Mount Washington sicher in Gedanken, wenn er über das Glitzern der Strait of Georgia in der Sonne bis zu den schneebedeckten Coast Mountains hinüberschaut.
Überhaupt ist ein Trip nach Vancouver Island mit spektakulären Eindrücken verbunden, beginnend mit der Anreise. Für mich erfolgt sie von der nur ein paar Minuten von Vancouver entfernten Horseshoe Bay aus. Dort legen die berühmten BC Ferries an und ab. In kurzen Abständen gleiten die strahlend weißen Riesen zu ihren Terminals und lassen die kleinen Segelboote im Hafen daneben auf den Wellen schaukeln. Auf sechs, sieben Fahrbahnen warten Autos darauf, durch das weit aufgerissene Maul der Fähren in deren Bauch verschwinden zu dürfen.
Die Wartezeit vertreibt man sich am besten im nahegelegenen Örtchen. Entlang der Sewell’s Marina stoße ich auf First Nations-Kunst und Relikte der Seefahrtgeschichte, dahinter versprechen Restaurants eine leckere Stärkung vor der Überfahrt. Die Crispy Cod Taccos im Olive & Anchor sind eine klare Empfehlung. Vielleicht hätte ich mich auch um eine Tüte Popcorn kümmern sollen, denn was an Bord folgt, hat ein bisschen etwas von einer Filmvorstellung.
BC Ferries: Überfahrt mit Aussicht
Wie in einem Kinosaal reiht sich im Inneren der Fähre Sitzplatz an Sitzplatz. Gebannt schauen die Passagiere nach vorne – nicht auf eine Leinwand mit Hollywoodstars im neuesten Blockbuster, aber dennoch auf einen filmreifen Anblick. Ein großes Panoramafenster gibt die Aussicht frei auf Berge mit schneebedeckten Gipfeln, deren Flanken sich bis hinunter zum Meer ziehen. Davor setzen bewaldete Felsen grüne Akzente auf der tiefblauen Wasseroberfläche. In einiger Entfernung verschmelzen riesige Tanker mit der Skyline Vancouvers in ihrem Rücken.
Mit einer Autorität, die wohl nur der Monarchie eigen ist, gleitet die „Queen of Oak Bay“ aus dem Hafen. Ein gutes Stück unterhalb ihres Decks geben ein paar kleine Bötchen eilig die Bahn frei. Nicht einmal der eine oder andere verirrte Baumstamm im Wasser scheint dem königlichen Auszug im Weg stehen zu wollen.
Die kälteunempfindlichen – oder zumindest angemessen gekleideten – Passagiere haben sich einen Logenplatz draußen am Bug gesichert. Mit zunehmender Dauer wird aus der wohltuenden Seeluft aber eine eisige Brise, die mit chirurgischer Präzision noch in die kleinste ungeschützte Stelle am Körper schneidet. Als Häuser, Hafen und Inseln hinter uns liegen, lassen sich die weniger Hartgesottenen vom beißenden Wind bereitwillig zurück ins Innere treiben.
Nach der Ankunft in Nanaimo nehme ich Kurs auf Cumberland, ein kleines Minenörtchen im Comox Valley, in dem man im Wandering Moose ein leckeres Frühstück und in der Cumberland Brewing Company einen kühlen Drink bekommt. Die Wand der Mikrobrauerei zieren etliche unterschiedliche Glasbehälter zum Abfüllen von Bier. Wer ein Gefäß mitbringt, das es in den Regalen noch nicht gibt, darf es zu den anderen stellen. Zumindest unter der Woche schließt der Laden um 22 Uhr.
Von Helden und Legenden
In „Legendary Cumberland“, wie das Ortschild vielleicht ein wenig forsch verkündet, wohnt Nigel Harrison, einer der Gründer von Section 8. Ganz im Zeichen kanadischer Gastfreundschaft überlässt er mir seine Gartenhütte für die Dauer meines Aufenthalts. Ihn selbst bekomme ich nicht zu Gesicht – er führt gerade eine Gruppe Wintersportler durch den legendären Japow auf Hokkaido. Dafür stellt er mir Dan als Guide zur Seite. Der Ire ist einer der local snowboard heros und einfach ein guter Typ. In der Brauerei besprechen wir bei einem Pale Ale den nächsten Tag. Hätte ich gewusst, wie anstrengend das Programm wird, ich hätte den persönlichen Zapfenstreich wohl ein paar Stunden nach vorne verlegt.
Zwischen dem Verlassen von Nigels Bretterdomizil und der Ankunft am Mount Washington liegen gut 30 Minuten. Während ich aus dem Auto heraus zwei Adler beobachte, die sich in einem anmutigen Tanz umkreisen, deutet Dan auf einen Berg. „Das Forbidden Plateau“, sagt er. „Früher war dort auch ein Resort, inzwischen hat man es aber aufgegeben.“
Bereits in den 1940er Jahren ließen sich die Leute dort von einem Lift nach oben befördern. Konkurrenz erhielt das Gebiet in den 1970er Jahren, als in der Nachbarschaft das moderne und durchgeplante Mount Washington Alpine Resort eröffnete und dem Platzhirsch nach und nach den Rang ablief. Spätestens mit dem Einsturz des Dachs der Forbidden Plateau Lodge Ende der 1990er war das Schicksal des Seniors besiegelt. „Zum Hiken ist das Terrain aber noch immer super!“, findet Dan.
Welche Last auf die Lodge eingewirkt haben mag, kann ich mir in etwa vorstellen, als ich später im Eagle View Bistro ein Bild aus einem Rekordwinter sehe. Sogar den Lift mussten sie damals ausbuddeln. Der war bis über die Pfeiler eingeschneit und transportierte die Wintersportler nach den Räumarbeiten wie durch einen handgefertigten Canyon. Heute kennzeichnet ein kleiner Waschbär auf einem Baum neben der Anlage die Höhe, die der Schnee damals erreicht hat. Auch an einem in Nordamerika nicht unüblichen, mit Unterwäsche behängten Bra Tree gondeln wir vorbei, genauso wie an einem Gartenzwergbaum, dessen Sinn mir aber nicht einmal die Locals erklären können.
Alle Wege führen zum Boomerang
Mein Auftakt im Mount Washington Alpine Resort verläuft denkbar gemütlich. Am Whiskey Jack-Lift gibt es einige Genussabfahrten wie die breite Coaster. „Wer auf präparierte Pisten steht, findet am Sunrise-Lift noch ein paar steilere“, erzählt Dan. Unser Ziel liegt aber in entgegengesetzter Richtung. Über moderate Tree Runs in den Good Time Glades arbeiten wir uns bis zum Outback vor. „Für gute Skifahrer und Snowboarder gibt es am Mount Washington nichts Besseres.“
Das glaube ich gern, als wir im Slalom um alte Tannen und Zedern in den Mangroves oder am Thunderdome kurven. Oder weite Schwünge in die North Bowl ziehen, bevor diese in eine Art natürliche Halfpipe übergeht, über der gefrorenes Wasser an den dunklen Felsen abstrakte Skulpturen bildet. Letztlich enden alle Wege diesseits des Boomerang Chair in der Head Wall. Die ist entsprechend verspurt und bedeutet eine ganze eigene Herausforderung.
Es dauert nicht lange, bis die Oberschenkel die ersten Notsignale senden. Zum Glück ist der 2006 installierte Boomerang Chair nicht gerade ein Sprinter. Gemütlich zuckeln die Sitze gen Gipfel. So bleiben zwischen den Abfahrten ausreichend Pausen für die Muskeln, die dann aber anderweitig gefordert werden. Einige der anspruchsvollsten Abfahrten liegen einen kurzen Aufstieg entfernt.
Direkt am Ausstieg des Lifts führen Spuren bereits eine Kuppe hinauf. Das Schild, das vor nicht detonierten Granaten der Ski Patrol warnt, hält die Konzentration auf jeden Fall hoch. Und wenn nicht die Warntafel, dann spätestens die Abfahrten. Dabei wiegen Billabong und Copper ihre Gäste mit einem sanften Einstieg zunächst in Sicherheit – bis das Gelände abrupt abfällt. Hier und da erhöhen umgestürzte Stämme den Schwierigkeitsgrad.
Liftbekanntschaften
Ohne ortskundigen Führer bin ich am folgenden Tag zunächst auf mich alleine gestellt, allerdings nicht lange. In Kanada ist es kein Problem, im Lift mit anderen Wintersportlern ins Gespräch zu kommen. Anscheinend haben Steve aus Quebec und ich ähnliche Vorlieben. Zwei Ortsfremde machen zwar noch keinen Local, aber jedem von uns ist wohler dabei, nicht ganz alleine durch unbekanntes Terrain zu fahren.
Am Mittag muss ich zurück nach Nanaimo. Bis dahin stöbern Steve und ich ein ums andere Mal ergiebige Powder-Taschen auf, die unter unseren Boards förmlich explodieren.
Tiefschnee von biblischem Ausmaß
Dan ergeht es zeitgleich vermutlich ähnlich. Mit dem Unterschied, dass er sich etwas weiter nördlich auf der Insel nicht einmal Mühe geben muss, um Tiefschneefelder zu orten. Dan stattet dem Mount Cain einen Besuch ab.
Der Berg, der genauso heißt wie der Wüterich aus dem Alten Testament, ist ein echter Geheimtipp für Powder-Enthusiasten. Unten stehen ein paar rustikale Holzhütten, lediglich zwei alte Schlepplifte erschließen das Gebiet. Der erste führt noch zu einer Handvoll gepflegter Pisten, ist für die meisten Leute aber lediglich eine Zwischenstation. Der zweite bringt die Skifahrer und Snowboarder hinein in weitgehend naturbelassenes Gelände. Und da die Lifte nur am Wochenende und an ausgewählten Tagen in Betrieb sind, kann sich der Schnee für die Freerider in aller Ruhe auftürmen. Angeblich sollen dort sagenhafte 15 Meter pro Saison vom Himmel kommen.
Für Bars mit einem ausschweifenden Nachtleben ist der Mount Cain selbstverständlich nicht bekannt. Das ist auch gar nicht nötig. Laut Dan entwickeln sich auf dem Parkplatz zwischen den Pickups oftmals die heißesten Partys. Die sollen sich nicht einmal von den Schneemassen in den Bergen abkühlen lassen. Irgendwann überzeuge ich mich selbst davon. Inspiriert vom Freeride-Gelände des Mount Washington werde ich es machen wie ein Boomerang im Outback: Ich werde wiederkommen.
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